Volk vs. Werte

Ein Zeitreise-Bericht der 12. Klasse des OSZ Lotis vom 5. bis 6.12.2022

Deutschland im Jahre 2045

Im Jahre 2045 gibt es auf der politischen Landfläche nur noch zwei bedeutende Parteien:

• Die Volkspartei, die alle politischen Fragen über Volksentscheide klären will und der das Grundgesetz dabei im Weg steht,

• und die Wertepartei, die auf der Einhaltung des Grundgesetzes pocht und für die Freiheiten und Rechte aller Gruppen, besonders der Minderheiten, plädiert.

Die Gesellschaft ist anhand dieser Frage gespalten. Wer auf der einen oder anderen Seite steht, erkennt man schon am Aussehen, da alle Anhänger einer Partei entweder ein V oder ein W auf ihrer Kleidung tragen.



1. Akt: Politische Diskussion

 Handelnde Personen:  

  • Janet Jaman – Politikerin der Wertepartei  
  • Nero Norman – Politiker der Volkspartei  

Eine Fernsehdiskussion zweier Bundespolitiker. Sie sitzen in bequemen Sesseln um einen Tisch. Janet Jaman hat ein großes W an ihrem Blazer, Nero Norman ein großes V an seiner Krawatte.

Nero Norman (selbstsicher): … Ich hingegen glaube aber, das Grundgesetz sollte abgeschafft werden.

Janet Jaman (entsetzt): Was? Meinen Sie das ernst? Aber es enthält unsere wichtigsten Grundregeln!

Nero Norman (ruhig): Es mag so sein, dass es wichtige Regeln enthält, es blockiert aber auch den Volkswillen.

Janet Jaman (holt ein Grundgesetz aus der Tasche und wedelt damit herum): Das Grundgesetz sichert erst die Grundrechte aller Menschen, die Menschenrechte!

Nero Norman (lächelt nur): Es steht aber dem Volkswillen entgegen. Wenn zum Beispiel die Menschen für die Todesstrafe sind, aber das Grundgesetz das nicht erlaubt, ist das gegen den Volkswillen!

Janet Jaman (fassungslos): Die Todesstrafe ausgerechnet!? Was ist mit dem Recht auf Leben? Auf körperliche Unversehrtheit? Das steht alles hier drin! (haut mit dem Grundgesetz mehrmals auf den Tisch)

Nero Norman (besonnen): Meine Liebe, was regen Sie sich denn so auf? Haben Sie etwa Angst vor dem, was unser Volk denkt? Wir von der Volkspartei möchten ja in jeder wichtigen Frage das Volk entscheiden lassen, per Volksentscheid. (macht grinsend ein Victory-Zeichen mit den Fingern zur Kamera) V wie Volk, V wie Vertrauen, V wie Volk.

Janet Jaman (erregt): Was ist denn mit dem Minderheitenschutz? Die Mehrheit darf nicht einfach auf Kosten der Minderheiten entscheiden. Das gehört auch zur Demokratie!

Nero Norman: An diesem Punkt sind wir wohl einfach unterschiedlicher Meinung, meine Liebe. Lassen wir das Volk entscheiden. V wie Volk! (macht wieder ein V-Zeichen in Richtung Kamera)

Die Diskussion geht noch weiter, doch dies waren die wichtigsten Punkte, über die sich auch die Menschen an den folgenden Tagen noch unterhält.


2. Akt: Im Park

 Handelnde Personen:  

  • Viktor – Anhänger der Volkspartei  
  • Wilhelm – Anhänger der Wertepartei  
  • Peter – Parteiloser  

Viktor und Wilhelm sind zwar politisch nicht einer Meinung, aber schon lange befreundet. Sie treffen sich immer wieder zum Spazierengehen und tauschen sich dabei aus. So auch heute im Park. Viktor trägt eine Mütze mit einem großen „V“ und Wilhelm hat einen großen Anstecker mit einem „W“.

Viktor: Mensch Wilhelm, hast du den Streit gestern gesehen? Zwischen Jaman und Norman?

Wilhelm: Klar Viktor, ist doch in allen Kanälen. Alle Influencer reden darüber. Was hältst du denn davon? Du liebst doch diesen Norman, oder? (grinst)

Viktor (genervt): Komm, mach dich nicht lustig. Ich finde ja bloß, er sagt manchmal gute Sachen. Und für die Volkspartei bin ich ja eh. Er hat doch zum Beispiel Recht, dass der Volkswille das höchste Gut sein sollte in einer Demokratie.

Wilhelm: Das ist doch nur ein Teil der Demokratie. Die Janet Jaman hat doch gut geantwortet mit dem Minderheitenschutz. Was sagst du denn dazu?

Viktor (überlegt kurz): Naja, wenn sich die Minderheiten vernünftig benehmen, hat ja die Mehrheit auch nichts gegen sie. Dann haben die nichts zu befürchten.

Wilhelm: Das würdest du nicht so sehen, wenn du zu einer Minderheit gehören würdest… Denkst du denn wirklich, die Todesstrafe sollte wieder eingeführt werden?

Viktor: Nur, wenn die Mehrheit der Deutschen das will. So ist das halt mit dem Volksentscheid. 100-prozentig Demokratie!

Wilhelm: Aber du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass… (unterbricht sich selbst) Siehst du das? (deutet auf einen Spaziergänger)

Viktor: Hm? (schaut auf) Oje! Was will der denn hier?

Peter (verwundert): Hallo? Sprechen Sie mit mir?

Wilhelm: Ey, du, zu welcher Partei gehörst du? Wo ist dein W?

Viktor: Oder dein V?

Peter (trotzig): Hab ich nicht. Weder noch.

Wilhelm: Wie jetzt, zu welcher Partei gehörst du denn dann?

Peter (richtet sich stolz auf): Zu keiner! Beide Parteien repräsentieren mich nicht. Ich bin für mehr Parteienvielfalt, wie früher. Außerdem habe ich ein Recht darauf, parteilos zu sein.

Viktor und Wilhelm schauen sich an, hauchen gleichzeitig laut „Parteilos!“ und ziehen die Augenbrauen hoch. Dann blicken sie wieder Peter an.

Wilhelm (lockend): Ey komm, du bist doch auch für Demokratie und Menschenrechte. Komm zur Wertepartei! Hier, ich hab ‘nen Anstecker für dich.

Viktor (lauter): Ach Quatsch, du bist doch für die Volkspartei, die spricht auch für dich! Komm, ich hab‘ einen Sticker für dich.

Die beiden gehen auf Peter zu, der weicht langsam zurück.

Peter (abwehrend): Hey, ich will das nicht! Ihr sollt mich beide in Ruhe lassen!

Viktor und Wilhelm (durcheinander): Komm zu uns, komm schon! Für die Demokratie! Komm schon!

Peter dreht sich um und rennt weg. Viktor und Wilhelm zucken die Achseln, stecken die Hände in die Taschen und gehen weiter.


Parteilos zu sein ist also noch schlimmer als von der jeweils anderen Partei zu sein. So kann es also auch gehen. Ist das die Zukunft, die vor uns liegt?